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Europäischer Musikrat

Bonn





Zwischen Kult und Kultur

Europäische Perspektiven zur Liturgie im Jahr 2000





Exzellenzen, Herr Präsident, meine Damen und Herren,

Es ist für mich eine große Ehre, Ihnen hier in diesem kulturatmenden äußeren Rahmen des Papst-Palastes in Ihrer Generalversammlung einige Aspekte zur europäischen Musikent-wicklung vortragen zu dürfen.

Die thematische Verbindung erschließt sich aus dem Auftrag des Europäischen Musikrates, der Zusammenschluß der Nationalkomitees der geographisch-kulturellen Region Europa sowie einiger Europäischer Musikorganisationen und Verbände des Internationalen Musikrates. Der Europäische Musikrat hat zur Aufgabe, mit seinem Netzwerk zur Bewußtseinsbildung in der Gesellschaft, d.h. zum angemessenen Stellenwert der Musik beizutragen. Die Facetten reichen vom Urheberrecht über Musikdatenbanken bis hin zu Symposien zur Musik im multikulturellen Europa; Informationsaustausch, zum Beispiel über Europäische Förderprogramme, ist eine wesentliche Funktion.

Seit dem 1. Januar 2000 befindet sich der Sitz des Europäischen Musikrates in Bonn, das Generalsekretariat des Deutschen Musikrates ist sozusagen der räumliche Gastgeber. Die finanzielle Unterstützung gewährt der im politischen System der Bundesrepublik Deutschland noch relativ neue Staatsminister für Angelegenheiten der Kultur und Medien, Dr. Michael Naumann.

Die Thematik Liturgie und das Thema Europa kann nicht rein objektiv betrachtet werden, d.h. ohne jedwede Rückkoppelung mit der persönlichen religiösen bzw. politischen Grundhaltung. Der nachfolgende Beitrag enthält daher zwangsläufig auch subjektive Wertvorstellungen und persönliche Erfahrungen, die jedoch an den betreffenden Stellen kenntlich gemacht sind.
 
 

Vorbemerkung

Läßt man die bewegten Zeiten der Päpste in Avignon vor dem geistigen Auge des Betrachters Revue passieren, ist man versucht, diese Zeit im Vergleich zu heute als europäischer zu empfinden. Trotz ungleich schwierigerer Verkehrsverhältnisse war die Kommunikation unter den führenden Künstlern Europas nicht schlechter. Die geistige Verbundenheit in einer gemeinsamen lateinischen Kultur war noch selbstverständlich, kein primitiver vor-rassistischer Nationalismus hat die Wahrnehmungsfähigkeit der Eliten beeinträchtigt.

Es ist kein Zufall, daß sich in dieser stolzen und optimistischen Zeit der sogenannten Ars nova, im hoch- und spätgotischen Mittelalter, aus den „normalen“ bzw. „gemeinsamen“ Teilen der Messfeier, die noch im Mittelpunkt allen Lebens stand, das Ordinarium Missae bzw. „le Commun“ als völlig neue musikalische Großform in der damals noch jungen polyphonen Kunst unter dem Begriff „Messe“ entwickelte. Eine musikalische Ausdrucksform aus der Liturgie und für die Liturgie, in der bis zum heutigen Tage alle Stile und Kompositionstechniken weit über Europa hinaus ihren Ausdruck gesucht haben.
 
 
 
 

Unabdingbare formgebende Voraussetzung für die Entstehung dieser Meisterwerke, die man durchaus als die klangliche Dome der europäischen Kultur bezeichnen kann, war und ist der vorbestehende allgemein verbindliche Ordo der Liturgie.

Wer die Interdependenz von kultischer Ordnung und kulturellem Ausdruck der vergangenen sechs Jahrhunderte in ihrer lebendigen Wechselbeziehung erspüren will, kann keinen besseren Weg wählen, als diesen durch den kompositorischen Garten der Geschichte von Vertonungen des Mess-Ordinariums. Aus dieser Perspektive gibt es kaum eine bezeichnendere Stadt für unser Thema als Avignon, eine unserer europäischen Kulturhauptstädte im Jahr 2000.
 
 

1 EUROPA - GESTERN UND HEUTE

Mit der langsamen Überwindung nationalstaatlicher Nabelschau und mühsam fortschreitender europäischer Integration fallen zum Glück manche inneren und äußeren Abschottungen und Grenzen. Gleichzeitig läßt sich jedoch in den europäischen Gesellschaften eine Verstärkung zentrifugaler Kulturtendenzen beobachten. Kulturelle Nischenbildungen und neue Ghettos werden begünstigt, ein zunehmender Verlust des kulturellen Zusammenhangs ist zu beklagen.

Dies gilt nicht nur für Sozial- und Bildungssysteme, Alterssicherungen, Bürgersinn und überregionale Aufgaben bis hin zu Rechts- und Sicherheitsfragen, sondern auch für den privatisierenden Rückzug aus der staatlichen Verantwortungsgemeinschaft als solcher. Die Provinzialisierung und Kommunalisierung als Reaktion auf die offenen Grenzen, übrigens eine bemerkenswerte Parallele zum späten Mittelalter. Aus dem „Volk“ ist die „Bevölkerung“ geworden.
 
 

2 BEDEUTUNG DER MUSIKALISCHEN BILDUNG IN EUROPA

Entgegen aller schon platonischen Erkenntnisse über die gesellschaftspolitisch langfristige Bedeutung musisch-musikalischer Bildung ziehen sich der Staat und die öffentliche Hand in Europa immer mehr aus dieser Verantwortung zurück.

Musikunterricht an allgemeinbildenden Schulen wird gestrichen, fällt aus oder wird inkompetent erteilt. Musikschulen werden geschlossen oder müssen zunehmend von den immer noch interessierten Eltern selbst finanziert werden, was den kulturellen Graben zwischen wohlhabend und weniger wohlhabend mehr vertieft, als es die Statussymbole materiellen Reichtums auszudrücken vermögen. Chancengleichheit in Form des Zugangs zur musikalischen Bildung ist nicht mehr gegeben. Kinder und Jugendliche sind zunehmend sich selbst überlassen, haben immer weniger Möglichkeiten, sich unabhängig von ihrem familiären sozialen Kontext eine musikalische Bildung und damit auch musikalisches Urteilsvermögen anzueignen. Die gnadenlose Ignoranz der Politik sägt unbekümmert am Ast, auf dem sie sitzt.

Daß Musikerziehung nicht nur Erziehung zur Musik, sondern mehr noch Erziehung durch Musik zum geistig-seelisch entwickelten Menschen ist, wird in der sogenannten großen Politik in Europa kaum zur Kenntnis genommen. Die den Bildungshorizont der Antike und des Abendlandes prägenden SEPTEM ARTES LIBERALES sind inzwischen gründlich vergessen und mit ihnen auch das Wissen um die Musik im mathematisch-spekulativ-philosophischen Kontext des Quadriviums.
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

  1. MUSIKALISCHE ORIENTIERUNGSLOSIGKEIT

  2. In dieser derzeitigen Verödung des öffentlichen musikkulturellen Bewußtseins in Europa müssen nahezu zwangsläufig vereinzelte subjektive Entwürfe musikalischer Ästhetik letztlich versagen. Die sogenannte Ernste Musik sucht geradezu verzweifelt den Ausdruck eines Absoluten – jedoch ohne gemeinsame Orientierung und Sprache.
     
     

  3. KULTURELLE ZWECKENTFREMDUNG IN DER MUSIKALISCHEN
AUFFÜHRUNGSPRAXIS

Gleichzeitig kreist ein Markt von historisierender Aufführungspraxis alter und ältester Musik abgelöst vom Kontext um sich selbst. Kultische Musik früherer Jahrhunderte wird dabei auf dem Operationstisch von Workshops seziert, ohne dabei die Seele dieser Musik zu entdecken. Vertriebs- und Marketingmanager der Tonträgerindustrie zögern nicht, zutiefst religiöse Musik (aller Weltreligionen) zur Garnierung eines gehobenen Wohlbefindens zur Zweckentfremdung freizugeben.

Auch der Gregorianische Choral, der liturgische Eigengesang der römisch-katholischen Kirche (II. Vatikanum), wird als „Esotheriksound“ entdeckt und vermarktet. Gäbe es ein unbefristetes Urheberrecht, wären diese Aufnahmen und Tonträger alle grobe Verstöße gegen das Persönlichkeitsrecht, die Verletzung desselben würde mit einstweiligen Verfügungen und Schadensersatzansprüchen verfolgt. Aber auch ohne ein solches „Recht“ ändert nichts an der moralischen und aufführungspraktischen Bewertung.
 
 

5 DAS II. VATIKANISCHE KONZIL UND SEINE REZEPTIONEN

Wenn man nun nach Perspektiven zwischen diesen kulturellen Phänomenen und dem heutigen Zustand des christlichen Gottesdienstes, oder besser gesagt des Cultus Divinus in Europa fragt, drängt sich die Frage auf, wie es denn angesichts der eher negativen Entwicklungen um die Interpendenz von Kult und Kultur steht.

Wer an die Unvermeidlichkeit geschichtlicher Entwicklung glaubt, dürfte sich weniger für Zusammenhänge und Gründe interessieren. Wer jedoch von einer verantwortungsbewußten oder verantwortungslosen Mitgestaltung der Geschichte durch den Menschen ausgeht, kann nicht übersehen, welche epochalen kulturellen Auswirkungen das II. Vatikanische Konzil nicht nur in Europa gehabt hat. Die Konzilsväter haben in weiser Ausgewogenheit um die Konstitutionen dieses Konzils jahrelang um eine substanzerhaltende respektvolle Verbindung von Kult und kulturellem Kontext gerungen.

Zusammen mit den Auflösungstendenzen der 68er Kulturrevolution von interessierten medial unterstützten und zunächst wohl auch als innerkirchlich zu bezeichnenden Gruppen – mit Duldung durch die Hierarchie – ist ein angeblicher Geist des Konzils verbreitet worden, der in den Beschlüssen dieses Konzils keinerlei Stütze findet und ihnen häufig genug diametral widerspricht. So hat der weitverbreitete de facto-Verzicht auf die große liturgische Musik in der Vergangenheit und Gegenwart in der europäischen Kultur eine Spur der Verwüstung hinterlassen und vielen Menschen das Herzstück ihrer seelischen Heimat genommen.
 
 

6 KULTURFAKTOR KIRCHENMUSIK

Auch für den nicht kirchlich sich gebunden fühlenden Menschen gehörte das Wissen um den klanglichen Ausdruck der Liturgie zum festen musikkulturellen Koordinatensystem und diente damit indirekt auch der eigenen kulturellen Standortbestimmung.
 
 
 
 

Allein quantitativ ist der Kulturfaktors Kirchenmusik mit Chören und Organisten bis hin in die kleinsten Gemeinden, wo sich auch für den sogenannten einfachen Mann von der Straße ein Fenster in kulturelle Weiten und Gemeinsamkeiten öffnet, ein bedeutsamer Faktor. Wir müssen jedoch heute nüchtern feststellen, daß die Auswirkungen dieser postkonziliaren kirchlichen Kulturrevolution das bekannt eklatante Ausmaß der Säkularisation von vor 200 Jahren wahrscheinlich noch übersteigen. Bildlich gesprochen ist die Abteikirche von Cluny ein zweites Mal abgerissen worden, diesmal geistig-liturgisch, vom blinden und verführten Eifer innerhalb der Kirche selbst.
 
 

7 DIE LATEINISCHE SPRACHE ALS KULTURELLE BASIS

Während die heutige Globalisierung u.a. auch nach einer allgemein verbindlichen Sprache sucht, wächst die auch theologische Discordia im provinziellen Sprachen-Babylon der Una Sancta. Im Zuge der Bildungspolitik der letzten Jahre der letzten Jahre ist auch das Lateinische einschließlich der mit ihm verbundenen Musik ins Museum gedrängt worden ist. Man wird wohl bald für die international besuchten Gottesdienste auf’s Englische als lingua franca zurückgreifen müssen, sofern dies nicht nationalstaatlich durch eine Quotenregelung unterbunden wird...

Der polnische Priester und Musiker Mizgalski berichtet bewegend aus einem fünfjährigen Leidensweg im KZ Mauthausen, „wie wunderbar die lateinische Sprache das Leben, die Sicherheit, die Liebe und Bruderschaft der vielen tausend Priester und Ordensleute in KZ-Lagern gestaltete! In dieser gemeinsam verstandenen Sprache beteten die Geistlichen aus 21 Nationen bei den härtesten Arbeiten in der Plantage und im Steinbruch (Gusen-Mauthausen). Sie trösteten sich gegenseitig in dieser Sprache, gaben den Häftlingen aller Nationen die Lossprechung und das viaticum in lateinischer Sprache. Alles im geheimen vor den Verfolgern.

Der Leser möge jeden beliebigen noch überlebenden geistlichen KZ-Häftling irgendeiner Nation befragen, was ihm den Mut gab, auszuhalten, durchzuhalten? Er wird antworten: unser gemeinsames Gebet in lateinischer Sprache und unser gemeinsame Choralgesang (soweit er erlaubt war) „Credo ... in unam, sanctam, catholicam et apostolicam Ecclesiam...“ Der gregorianische Gesang war unser Weihechoral auf Leben und Tod. Inbrünstig sangen wir „...dona nobis pacem...“, und wenn der Rauch vom Krematorium her zu uns drang, sangen wir ergeben „In paradisum deducant te angeli...“. Dann waren wir eins – einig – in una oratione, in una lingua, in cantu sacro. Und diese Lingua war für uns nach den Worten des polnischen Kardinal-Primas auf der 1. Sitzung des Konzils „...validissimum vinculum unionis Ecclesiae...“ und man kann hinzufügen „etiamsi in carcere“!“.

Es verwundert, daß man zwar Papst Johannes XXIII heute so sehr verehrt, jedoch seine Gedanken nicht beherzigt, wenn es um die liturgische Sprache geht. So schrieb er zum 50. Jahrestag der Gründung des Pontificio Instituto de Musica Sacra am 8.12.1961 in Rom: „...die lateinische Sprache ist nämlich, abgesehen davon daß sie um ihrer selbst willen in Ehren gehalten werden soll, ein sichtbares und schönes Zeichen der Einheit, da sie mit den heiligen Gesängen der Römischen Kirche aufs engste verbunden ist. Als ehrwürdige und erhabene Sprache, Muttersprache für die Söhne der Kirche, ihrer Art nach sich leicht den musikalischen Rhythmen einfügend, würdevoll und wohlklingend, mit ihren unverfälschten Worten Schätze der Wahrheit und Frömmigkeit in sich bergend, in der Liturgie autorisiert, muß sie auch in Zukunft den ersten Platz einnehmen... Bei der feierlichen Liturgie, sowohl in den angesehenen Domen als auch in den kleine Dorfkirchen, gebührt für immer der lateinischen Sprache das Recht, ihr königliches Zepter und ihre edle Herrschaft zu führen“.
 
 
 
 
 
 

8 LITURGIE UND ZEITGEIST
 
 
Heute beherrscht die eitle Versuchung der Zustimmung heischenden, kurzweiligen medialen Show Kult und Kultur. Nicht Inhalt, Unterhaltung ist gefragt; statt Nahrungsmittel Opiate. Folgerichtig bedarf es einer Musik, die diese nach außen gerichtete Formen unterstützt.

Wahre Religion, Kunst und Kultur, wenn wir sie nicht auf Zivilisation reduzieren wollen, haben jedoch nie eine horizontale Blickrichtung. Sie entziehen sich im wesentlichen auch Mehrheitsbeschlüssen oder dem gleich tiefen Verständnis aller. Horizontaler Anthropozentrismus erhebt nicht, sondern muß flach bleiben, kultisch wie kulturell. Was jedoch für die Kultur „nur“ zur Verarmung und Verödung führt, riskiert im kultischen Bereich Substanz und Existenz desselben.

Die krampfhaften Versuche, den Sound der Unterhaltungsmusik liturgiefähig zu machen, enden nicht nur wegen mangelnder musikalischer Professionalität in Peinlichkeiten. Die Scheinheiligkeit ergibt sich insbesondere auch deshalb, weil ein geistliches Restunbehagen den aggressiven Biß, das echte der Rockmusik bzw. den lasziven Eros der Unterhaltungsmusik zu unterdrücken versucht und auf diese Weise gute Unterhaltungsmusik entkernt, ihr ihrerseits das Wesen nimmt, schlecht kopiert und auf dies Weise in Seichtigkeit enden muss. Das ganze Ausmaß an Unehrlichkeit kommt darin zum Ausdruck, daß in vielen Kirchen für die Kunsttouristen tagsüber eine Beschallung mit edler liturgischer Musica Sacra vorgenommen wird, gleichzeitig aber für den lebendigen Kult kaum eine musikalische Banalität ausgelassen wird.

Exzellenz, meine Damen und Herren, gestatten Sie mir hier ein persönliches Wort: Ich muß gestehen, daß ich in meiner musikpolitischen Funktion angesichts so mancher musikalischer Liturgiegestaltung auch an bedeutenden Stätten vor der internationalen und meist nicht-katholischen musikalischen Fachwelt als Katholikin oft befremdet bin.
 
 

9 VISIONEN
 
 

9.1 Ein kulturelles Europa

Die ökonomische Einigung Europas schreitet voran. Die politische Einigung wird zwar noch auf sich warten lassen, aber sie ist zumindest in realistischere Nähe gerückt. Wir brauchen Visionen. Dabei könnte Europa im Konzert der Kulturkreise und Weltregionen der Kontinent der Menschlichkeit sein. Seine klassisch-humanistische und christliche Vergangenheit bieten die besten Voraussetzungen.
 
 

9.2 Europäische Musik als kultureller Export

Bei allem Respekt vor nichteuropäischen Kulturen und Hochkulturen werden wir nicht die Ohren davor verschließen können, daß die europäische Dur-Moll-Tonleiter die Welt erobert hat.

So, wie im übrigen erstaunlicherweise die Militärlogistik (z.B. Straßen, Kommunikationsmittel, Personalplanung und -einsatz) des antiken römischen Weltreichs die unfreiwillige Stafette für die Ausbreitung des Evangeliums geworden ist, könnte der Weltmarkt westlicher Popularmusik den Boden bereiten für ein potentielles Interesse an den Schätzen unserer gesamten Musikkultur.

Wer möchte bezweifeln, daß der Klang eines Johann Sebastian Bach, Ludwig van Beethoven und Wolfgang Amadeus Mozart heute schon längst auch zum kulturellen Besitz der meisten halbwegs gebildeten Japaner, Chinesen und Koreaner gehört? Der letztlich aus dem Kult gewachsene musikalische Reichtum Europas ist vermutlich der beliebteste, friedvollste und im Sinne der Völkerverständigung effizienteste Exportartikel unseres Kontinents.
 
 

Ohne die europäische Musikkultur hätten auch keine befruchtenden kulturellen Mischprozesse wie in Nord- und Südamerika stattfinden können. Allerdings scheint auf diesem Kontinent (weniger dem Staat als vielmehr dem agierenden Individuum) die Bedeutung von Musik als den Menschen führendes und verführendes Faszinosum intuitiv bewußter zu sein.
 
 

9.3 Die Kirchen in der besonderen Verantwortung

Angesichts der heutigen Möglichkeiten einer technischen Klangbeschallung mit Musikkonserven ist der Kirche eine neue Verantwortung zugewachsen. Der Gottesdienst ist meist der letzte Ort des durchschnittlichen Zeitgenossen, wo er noch zum eigenen Singen aufgefordert wird, vorausgesetzt, nicht auch dort hat schon der medialvermittelte Sound toter Musik eingehalten – „tote“ Musik deshalb, weil sie im Vergleich zur vom lebenden Menschen hervorgebrachten Musik nur ein Klangbild einer früher einmal aufgenommenen Musik ist.

Ein gemeinsames Singen verschiedener Altersgruppen und Generationen jedoch setzt eine langfristige Repertoirebildung voraus. Somit bedarf auch der gottesdienstliche Volksgesang einer behutsamen überregionalen Pflege und keiner kurzlebigen lokalen Moden, damit eine gemeinsame Kultur überhaupt wachsen und tradiert werden kann. An dieser Stelle können Schulen und Kirchen konstruktiv zusammenwirken im Sinne musikalischer und liturgischer kulturellen Bildung. Dieser Bildungsaspekt ist jedoch um eine zweite bereits erwähnte tiefergehende persönlichkeitsrelevante Dimension zu erweitern.
 
 

9.4 Musik: der Schlüssel zur Seele

Nur die Seele des Menschen vermag die Nachricht der Musik zu dechiffrieren. Dem indiskreten Zugriff der Ratio erschließt sie sich nur oberflächlich. Sie ist ihrem Wesen nach diskret und letztlich individuell; dies gilt für den Gebenden ebenso wie für den Empfangenden.

Als rein geist-seelische Äußerungsform des Menschen ist sie schlechthin die Brücke zur immateriellen Welt, zum Logos im Sinne des Evangeliums nach Johannes. Christlicher Gottesdienst, göttlicher Kult, ist daher ohne Musik, ja ohne eigene musikalische Gewandung, gar nicht denkbar. Es war also nur folgerichtig, daß Papst Pius X. sein großes Programm, „alles in Christus zu erneuern“, mit der liturgischen Musik begann, ein Reformwerk, daß in der Liturgiekonstitution des II. Vatikanums seine Vollendung gefunden hat.

In einer Zeit, in der wie nie zuvor die technisch-kombinatorischen Fähigkeiten, das bedeutet, die naturwissenschaftlichen Teile unseres Gehirns gefordert und gefördert werden, kommt der Religion und ihrer Musik mehr noch als früher die große Aufgabe zu, durch die Akzentuierung der musisch-intuitiven sowie ästhetisch-philologischen Komponente den Menschen in seinem ganzen Menschsein ausgewogen und gesund zu bewahren. Andernfallls besteht die Gefahr, daß er bald zum Sklaven seiner eigenen schon in Planung befindlichen monstruösen Bio-Roboter und dumpfer Konsument wird. Doch dorthin, wo im geheimnisvollen Niemandsland des psychosmatisch-seelischen Zusammenspiels immer die Grenzen der menschlichen Machbarkeiten verlaufen werden, dringt nur die Musik und der Gottesglaube.
 
 

    1. Musikalische Schönheit und liturgische Gestalt
Wenn die Musik Abglanz einer größeren Wirklichkeit ist, werden all diejenigen, die im Cultus Divinus die hinter irdischen Zeichen verborgene Begegnung mit dem Schöpfergott, dem Urgrund des Seins, erkennen, mit größter Aufmerksamkeit, Disziplin und Hingabe nach einem Maximum an musikalischer Schönheit der liturgischen Gestalt suchen – und die Mühe einer langen Ausbildung und Bildung nicht scheuen. Der wirklich gläubige Christ wird wieder die Schule der Schönheit neu entdecken müssen, und je höher seine kirchlich-apostolische Verantwortung ist, um so mehr wird er ihrer bedürfen.
 
 

Nicht Funktionalität und Zweckdenken sind Weg und Ausdruck der Liebe, wie uns Maria Magdalena vorgelebt hat, nicht zufällig die Schutzpatronin dieser von reifer Schönheit geprägten Landschaft der Provence.
 
 

9.6 Kult, Kultur und die Kunst des Feierns

Wer sonst, wenn nicht die Kirche, könnte in Europa wieder die Kunst und den Sinn des inneren und äußeren Feierns aufzeigen, zumal sich ein Osterglaube nicht in Diskussionen vermitteln läßt, sondern gelebt und somit erlebbar sein muß. Eine Feier kann man jedoch nicht im eigentlichen Sinne „machen“, vielmehr bedarf es eines objektiven Anlasses und Rahmens, der erst Maßstäbe und Proportionen ermöglicht. Ein Jahresablauf ohne die Ordnung des Kirchenjahres relativiert jedes Fest infolge seiner Beliebigkeit. Die in den europäischen Geschäften bereits ab Ende September ausliegenden Weihnachts-„Accessoires“ belegen manchen Verlust an kulturellem Bewußtsein und dem Nuancenreichtum kultureller Riten.

Die feiernde Gemeinde bzw. Gruppe feiert ohne den kultischen Bezug nur sich selbst, anstatt im Bewußtsein einer möglichst großen weltweiten Teilhabe an derselben Freude. Diese Bezugslosigkeit zeigte sich zum Beispiel auch am vergangenen Samstag, am weltweit begangenen Tag der Hospiz-Bewegung: glückvoll sang man überall in karitativen ökumenischen Konzerten Händels Hallelujah aus dem „Messias“, im besonderen Bewußtsein einer weltumspannenden augenblicklichen Gemeinschaft. Wer von der involvierten Geistlichkeit hat wohl dabei be- oder angemerkt, daß jeder sonntägliche Introitus, die gesamte liturgische Ordnung des gregorianischen Propriums permanenter Ausdruck dieser weltumspannenden Gemeinschaft der Kirche sein müßte...

„Ad libitum“ ist nicht unbedingt ein Grund zur Freude, es ist auch die Freiheit von Verbindlichkeit. Gerade die Verbindlichkeit der Ordnung jedoch schafft die Verbundenheit mit dem Ganzen. Unübertroffen kommt dies im größten musikalischen Kunstwerk des Abendlandes zum Ausdruck, im zyklischen Gesamtkunstwerk des Offiziums, der gesungenen Bibel für jede Stunde, jeden Tag, fürs ganze Jahr. Dies ist der kultische Reichtum, in dem die europäische Kultur mitgestaltend gewachsen ist.
 
 

9.7 Kult als Motor der Kultur

In den aktuellen ersten Ansätzen zu einer künftigen europäischen Verfassung hat man begonnen, um den Geist des Ganzen zu ringen. Für das karolingische Kerneuropa, gewissermaßen die ersten sechs Gründungsstaaten, hatte Karl der Große mit der gemeinsamen kultischen Ordnung im Blick auf den römischen Usus eine Grundlage vorgegeben, die für die Entwicklung Europas kulturell entscheidend war.

Noch erreicht die Kirche heute allwöchentlich mehr Menschen als alle anderen gesellschaftlichen Verbände und Organisationen. Vielleicht könnte sie auch heute noch durch eine allgemeine Wiederentdeckung ihrer gemeinsamen kultischen Musica Sacra indigena (also der einheimischen europäischen Kirchenmusik) der verbreiteten frustrierten Europa-Müdigkeit noch rechtzeitig mit einer alten neuen Vision bewußt unter europäischem Blickwinkel entgegentreten und somit dem wirklichen Konzilswillen wieder ein Stück näher kommen.

Der Kult war immer schon Herzschrittmacher der Kultur; und, um im Bild zu bleiben, scheint heute die Batterie entweder schwach geworden oder ein falsches Fabrikat zu sein.

Lassen Sie mich mit einigen Thesen als zusammenfassende Folgerung des Gesagten schließen:
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

10 ABSCHLIEßENDE THESEN:
 
 

    1. Europa wird ohne gemeinsame Kultur nicht als (auch politische) ernstzunehmende Einheit existieren
    2. Eine europäische Kultur wird es ohne gemeinsamen Kult als verbindende Kraft in Zukunft nicht mehr geben
    3. Der Kult wird ohne seine gewachsene, eigene große Musik seine Anziehungskraft weiter verlieren und zu einem kaum verständlichen Ritual in einem unattraktivem Ghetto veröden
4. Liturgie in Europa ist Bestandteil internationaler Friedenspolitik Europa ist nicht nur eine politische und ökonomische Option, sondern ein existentieller Imperativ internationaler Friedenspolitik, das darf nicht vor lauter materieller Thematik in Vergessenheit geraten
 
 
    1. Die Kirche in Europa steht mit ihrem öffentlichen kultischen Vollzug in
großer historischer Verantwortung.
 
 
 
 
 
 
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
 
 
 
 
 
 
 
 

Marlene Wartenberg

21. Oktober 2000